Saxeten; unsere neue Heimat

Anfang April 1934 kamen wir vier hier in Saxeten an. Drei Tage zuvor blieben wir im Nachbardorf, wo der jüngste Bruder von Vater, der Albert, eine Witwe geheiratet hat. Sie betrieb einen Gasthof in Wilderswil. Dieser Bruder wollte, dass wir erst einmal bei ihnen Halt machten. Diese neue Tante schickte immer wieder ihre Pflegetochter vors Haus, um nachzusehen, ob die neuen Verwandten aus Amerika immer noch nicht angekommen sind. Wir kannten uns ja noch nicht. Unser Onkel heiratete, als wir in Amerika waren.

Auf einmal kam die Pflegetochter zu ihrer Mutter gerannt und meldete: Eine dicke Frau mit drei Kindern sind gerade aus der Kutsche gestiegen, welche aus Interlaken her kam. Wir wurden herzlich aufgenommen und die Tante sagte: Bleibt vorerst ein paar Tage da. Und so kam es, dass wir drei Tage dort blieben.

Plötzlich kam Mutters ältester Bruder Ueli von Saxeten herunter und meldete uns, die beiden Grossmütter und Tanten erwarten uns sehnlichst. Wir möchten jetzt doch die Heimreise antreten.

Am andern Morgen fuhren wir mit einem Wägelchen, das von einem Pferd gezogen wurde, unserem Bergdorf entgegen. Dieses Gespann gehörte dem Postmann, welcher jeden Tag die Post holte und brachte. Auf diesem Wägelchen waren zwei Kisten angebracht. Vorne sassen Mutter und der Bruder, hinten meine Schwester und ich. Obwohl der Wagen eher etwas einen improvisierten Eindruck hinterliess, fürchteten wir uns überhaupt nicht vor dem Hinunterfallen.

Die Tante und Onkel, die uns begleitet hatten als wir Abschied nahmen, haben mit dem Mittagessen auf uns gewartet. Grossmutter väterlicherseits kam auch dazu. Unser Bruder kroch ihr auf den Schoss, wie wenn sie einander immer gekannt hätten, und hielt sie fest. Vor Freude liefen ihr die Tränen immer wieder die Wangen herunter.

Während dem Essen kam der jüngere Bruder von Mutter, der ja auch mit uns in Amerika war. Er reiste damals schon im Januar wieder in die Schweiz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass auch wir zwei Monate später folgen würden. Sobald unser Bruder diesen Onkel sah, sprang er von Grossmutters Schoss und nahm den Onkel in Beschlag.

Dieser wiederum drängte uns, mit ihm zur anderen Grossmutter zu kommen. Zu der Mutter unserer Mutter. Sie sah gesundheitlich sehr schlecht aus. Unsere Mutter erschrak, als sie sah. Sie hat unseren Weggang damals sehr schlecht verkraftet. Sie lebte immer in Angst, und während der Zeit, die wir auf dem Meer waren, glaubte sie immer, unser Schiff würde untergehn wie die Titanic damals.

Im folgenden Herbst starb dann unsere Grossmutter. Unsere Ankunft war damals ein Dorfereignis, was wir im nachhinein erst feststellten. Bereits ein Tag zuvor liefen die Leute bei der Ankunft der Kutsche auf dem Dorfplatz zusammen. Bei den einen soll sogar das Mittagessen angebrannt sein, weil sie immer wieder weggelaufen sind, um Ausschau zu halten.

Unsere Verwandten hier hatten Bedenken, uns etwas Essbares vorzu­setzen, denn unsere Eltern schrieben, dass wir schlecht essen würden, obwohl wir wie im Schlaraffenland lebten. Sie nahmen an, dass es das Klima war, das wir schlecht ertrugen. In Saxeten dann entwickelten wir einen riesigen Appetit.

Uns gefiel es auf Anhieb in unserer Heimat. Immer wieder fragten wir Mutter, ob dieses Haus ganz sicher uns gehöre. Wir durchstöberten jede Ecke. Unser Bruder Adolf lief noch im Mantel und Kappe auf den Estrich und sagte: Wenn Vater da ist, muss man hier renovieren.

Vater kam drei Monate später, und wir waren wieder eine Familie.

Die Zeit rückte näher, in der wir zu unserem Onkel in die Schule mussten. Wir zwei Mädchen hatten Mühe, allem gerecht zu werden. Besonders das Rechnen fiel uns schwer. Unser Bruder hingegen bewältigte die Rechnungen spielerisch. Er sagte immer, es gäbe nichts leichteres als das.

Einmal, an einem Examen, mussten wir zwölf Kopfrechnungen lösen. Ich ging in die achte Klasse und unser Bruder in die vierte Klasse. Der Lehrer sagte: Wenn die drei aus der vierten Klasse gerne mitmachen möchten, können sie sich daran beteiligen. Alle drei waren sehr gut in allen Fächern. Siehe da, unser Bruder war der einzige von allen Klassen, der die Aufgaben richtig gelöst hatte.

Am Ende des Examens kam der Pfarrer nach vorne, wie er das jedes Jahr tat, und hielt eine kurze Rede. Nun, der Pfarrer wollte von dem Lehrer wissen, was das denn für ein Junge sei, der alle Aufgaben richtig gelöst hätte. Der Onkel wurde rot und sagte kleinlaut, dies wäre sein Neffe. Der Pfarrer ging dann zu unserem Bruder und gratulierte ihm zu seiner Leistung. Meine Schwester und ich waren hocherfreut und mächtig stolz über diese Begebenheit. Etwas weniger erfreut waren natürlich die Schul­kollegen von der neunten Klasse. Eine davon sass direkt vor mir. Ärgerlich lispelte sie mir zu: Jemand hat dem das gesagt. Worauf ich erwiederte: Wer denn? Ob sie denn meine, jemand von der vierten abwärts habe ihm die Resultate ins Ohr geflüstert?

Unser Onkel sparte nämlich absichtlich mit Lob, weil er immer in Angst lebte, uns unbewusst zu bevorzugen. So kam es, dass er ab und zu viel zu streng mit uns war.

Er liess uns nichts durchgehen. Er rügte mich, weil ich das Wort Amerika mit einem c statt mit einem k schrieb.

Vater hat unserem Bruder oft den Vorschlag gemacht, ihn studieren zu lassen, denn die Fähigkeiten hatte er dazu. Unser Bruder wollte nichts davon wissen. Er habe keine Freude daran. Der eine Bruder von Vater lebte in Bern und war dort Sekundarlehrer. Später war er dann auch Regierungsrat. Dieser Onkel wollte meinen Bruder aufnehmen, denn er war sein Pate.

Als ich einmal Vater und Bruder das Essen aufs Feld brachte, sassen diese beiden auf der Bank vor der Scheune. Offenbar hatten sie Hunger und warteten auf mich. Mich irritierte, dass mein Bruder weinte. Ich wusste nicht was ich davon halten sollte, denn mein Vater machte dazu ein heiteres Gesicht. Gestritten haben sie sich also nicht. Ich fragte den Vater, was denn passiert sei. Er sagte, dass er es wieder mal versucht habe, seinem Sohn das Studieren schmackhaft zu machen. Das Resultat davon würde ich ja sehn. Auch ich wollte es ihm schmackhaft machen und sagte: wir alle wären sehr stolz darauf, wenn er diesen Schritt machen würde. Leider ohne Erfolg. Es war sinnlos ihn zu zwingen, denn er wollte lieber zu Hause bei der Landwirtschaft bleiben.

Meine Schwester und ich hatten Mühe, uns an der Handarbeitsschule zurechtzufinden. Das Stricken ging harzig von statten, obwohl unsere Mutter und Grossmutter sich sehr bemühten, uns dies beizubringen.

Auch hatten wir im Gegensatz zu all den andern Dorfmädchen einen kurzen Haarschnitt, so wie wir es in Amerika getragen hatten. Die Mädchen hier hatten lange Zöpfe um die wir sie oft beneideten.

Auf der Wiese vor unserem Hause versammelten sich immer viele Kinder, die unseren Haarschnitt bewunderten und uns zuhörten, wenn wir Englisch sprachen.

Für den kirchlichen Unterricht mussten wir von hier ins Nachbardorf Wilderswil laufen. Manchmal die Woche ein bis zweimal ein sieben Kilometer langer Weg. Bei jedem Wind und Wetter. Im Winter haben wir den Weg jeweils auf Skiern oder mit dem Schlitten zurückgelegt. Zurück mussten wir dann zu Fuss. Autos gab es damals noch keine. Nach einem solchen Marsch freuten wir uns immer auf das warme Essen, das Mutter in der Ofenecke für uns warm hielt.

Die Jahre vergingen. Ein Kind nach dem andern verliess die Schule. Wir Mädchen gingen auswärts arbeiten. Damals kam es niemanden in den Sinn einen Beruf zu erlernen. Wenigstens für die Mädchen nicht. Von früh bis spät musste man hart arbeiten für einen kleinen Lohn. Frei hatte man zweimal die Woche, mittwochs und sonntags je zwei bis drei Stunden. Ferien gab es keine.

Unsere Schwester hat mit fünfundzwanzig Jahren geheiratet. Einen rechtschaffenen Mann. Er sorgte gut für seine Familie. Die ersten Jahre betrieben sie ein kleines Schuhgeschäft, da mein Schwager sich in dieser Branche gut auskannte. Er hat den Schuhmacher-Beruf erlernt und fertigte auch Schuhe nach Mass an. In dieser Zeit wurden ihnen auch drei Kinder geboren. Zwei Söhne und eine Tochter. Der Schule entlassen erlernten sie einen Beruf und hatten Freude an ihrer Tätigkeit.

Gesundheitshalber musste mein Schwager umsatteln. Die sitzende Arbeit vertrug er nicht mehr und musste am Magen operiert werden. Nach seiner Genesung erlernte er den Beruf als Bodenleger, was er gesundheitlich besser bewältigte.

Unser Bruder hat mit fast achtundzwanzig Jahren geheiratet. Seine Frau stammt aus unserem Dorfe, sie ist eine tüchtige Frau. Im Haus und Garten weiss sie bestens Bescheid. Auch in der Landwirtschaft war sie unserem Bruder eine grosse Hilfe und packte überall tüchtig zu.

Leider durften sie nur zwölf Jahre beieinander bleiben. In dieser Zeit wurden ihnen ein Sohn und zwei Töchter geboren. Dann verunglückte der Gatte, unser Bruder, tödlich. Drei Wochen später gebar seine Frau ihr viertes Kind. Ein zweiter Sohn, Hanspeter.

Nach ein paar Jahren heiratete unsere Schwägerin wieder. Ihr Gatte war auch Witwer und hatte Kinder. Ihnen wurde dann noch eine gemeinsame Tochter geboren.

Meine Schwester und ich waren froh, dass unsere Schwägerin wieder einen lieben Menschen gefunden hat, der an die Stelle unseres Bruders getreten ist.

Die vier Kinder haben alle einen Beruf erlernt. Bis auf eine Tochter haben die drei anderen geheiratet. Schade, dass das unser Bruder nicht mehr erleben konnte. Er hätte sich sicher über seine Grosskinder gefreut.

Ich selber habe zweiundzwanzig Jahre im Krankenhaus im Personal­restaurant in Unterseen gearbeitet. Die Arbeit gefiel mir sehr. Es war auch die erste Arbeitsstelle und es war neu für mich, dass ich eine geregelte Freizeit und bezahlte Ferien hatte.

In all diesen Jahren liess ich unser altes Vaterhaus, das 1585 erbaut wurde, teilweise umbauen, um es Feriengästen zu vermieten.

Nun bin ich schon etliche Jahre pensioniert und geniesse den Ruhestand mit all meinen Feriengästen.

Ich bin unserem lieben Gott dankbar, dass ich meine tägliche Arbeit noch erledigen kann. Mit meinem kleinen Garten bin ich auch fast ein Selbst­versorger.

Auch säge und spalte ich viel Holz für meine Holzheizung. Manchmal fällt ein Klotz mir auf meine Zehen, sodass sie blau werden. Ich humple ein wenig herum und bald ist alles wieder gut.

Wir blieben lange Zeit in Briefkontakt mit einigen Freunden aus Amerika. Von diesen erfuhren wir, dass der Sohn des Gutsherrn die Farm wieder zum Blühen gebracht hat. Er liess sich allerlei einfallen, schaffte exotische Tiere an, liess kleine Eisenbahnen anfertigen um die Gäste in der Gegend herumzufahren und vieles mehr. Das alles geschah, als wir schon in unserer Heimat waren. Freunde von uns schickten uns Zeitungsausschnitte und hielten uns auf dem laufenden, was sich so alles ereignet hat auf unserer geliebten Farm.

Foto 1: Hinten von links nach rechts: Ich, meine Schwester Kläry und vorne mein Bruder Adolf
Foto 2: Von links nach rechts:, Ehepaar Leisner (Besuch aus Amerika) mein Schwager Hans, Ich, meine Mutter, Schwester Kläry, mein Bruder Adolf und mein Vater mit Grosskind Hansruedi